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Überwachungs-Overkill

20. Mai 2008

Dass unsere aktuelle Regierung ebenso wie die Ermittlungsbehörden dieses Landes dazu neigt, ihren Bürgern ebenso wie moderner Technik tendenziell nicht weiter zu trauen, als man Schäubles Rollstuhl oder einen Ur-Computer der Kategorie von Colossus werfen könnte, dürfte mittlerweile relativ bekannt sein. Nun gab es für diese Tatsache, die in einem Rechtsstaat des 21. Jahrhunderts durchaus zur Besorgnis Anlass gibt, einen handfesten Beleg mit Zahlen: In Deutschland wurde die Online-Kommunikation, für zunehmend mehr Menschen elementarer Bestandteil des beruflichen wie des privaten Lebens, im Jahr 2007 weitaus stärker überwacht als noch im Vorjahr.

Wie der IT-Branchenverband BITKOM berichtet, hat sich im vergangenen Jahr die Zahl der abgehörten Internet-Rufnummern (Voice over IP) mehr als verdreifacht: In 141 Fällen schnitten die Behörden mit. Auch auf E-Mail-Konten und komplette Internetzugänge griffen die Ermittler deutlich häufiger zu als im Vorjahr – mit Steigerungsraten von 45 und 57 Prozent.

Bei derart deutlichen Steigerungen muss man sich schon fragen, woher dieses Phänomen kommt. Allein die gestiegene Internet-Nutzung wird es kaum sein, denn so drastisch, dass es auch nur annähernd die im Bereich der Überwachungsmaßnahmen zu beobachtenden Steigerungen erklären würde, sind die Wachstumsraten in diesem Bereich schon seit Jahren nicht mehr.

Sind wir alle soviel krimineller geworden? Gibt es in diesem Land auf einmal eineinhalb- bis dreimal soviele Terroristen und andere Kapitalverbrecher? Wohl kaum. Schließt man diese Erklärung allerdings aus, kommt man (mal wieder) zu dem Schluss, dass einige Verantwortungsträger in diesem Land zunehmend das Gespür für Verhältnismäßigkeit, individuelle Grundrechte und nicht zuletzt sinnvolle Risikoabwägung verlieren und im Zweifel einfach alles überwachen, was nicht bei drei auf dem nächsten Baum ist.

Gerade moderne Technik, insbesondere Computer und das Internet, stehen ja sehr häufig auf der Liste unserer Regierung, wenn es darum geht, neue Überwachungsmaßnahmen einzuführen- die Online-Durchsuchung, die Quellen-Telekommunikationsüberwachung und die Vorratsdatenspeicherung sind dafür ebenso Beispiele wie die hier thematisierte Überwachung von Internet-Verbindungen im Allgemeinen.

Offenbar befürchtet man in Berlin und in den Hauptquartieren diverser Ermittlunsbehörden einen Kontrollverlust angesichts der teilweise enormen Freiheiten und Möglichkeiten, die gerade das Internet bietet, und versucht, dies durch verstärkten Einsatz aller nur denkbaren Überwachungsmaßnahmen zu kompensieren.

Wahr ist: Das Internet bietet, ebenso wie man damit sehr viele nützliche und sinnvolle Dinge tun kann, auch die Möglichkeit, auf sehr viele verschiedene Arten kriminell zu handeln und der Gesellschaft zu schaden. Es ist gewissermaßen ein Werkzeug, das zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden kann, legalen und illegalen, moralischen und unmoralischen, konstruktiven und destruktiven. Wahr ist auch, dass in bestimmten Fällen, wenn es wirklich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um Terrorismus oder andere besonders schwere Verbrechen geht, der Staat zum Wohle der Allgemeinheit im Internet ebenso eingreifen muss, wie er das im „Real Life“ auch täte. Anarchie hat den Nachteil, dass sie nicht mit realen Menschen funktioniert, von denen einige immer versuchen werden, anderen zu schaden oder sich auf deren Kosten einen Vorteil zu verschaffen, und dementsprechend muss es, im Internet wie außerhalb, Grenzen geben und jemanden, der die Einhaltung dieser Grenzen sicherstellen kann.

Trotzdem ist der derzeitige Kurs der Regierung besorgniserregend, denn so, wie diese ihre Befugnisse einsetzt (beziehungsweise dies den Ermittlungsbehörden als exekutiver Kraft gestattet) richtet sie weit mehr Schaden an als sie positives bewirkt. Die massive Steigerung der Überwachungsfälle ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass man es mit der Beweislage nicht so genau nimmt und bereits „auf Verdacht hin“ womöglich völlig unschuldige Menschen überwacht (wenn es nicht sogar, wie bei der Vorratsdatenspeicherung, bereits im Konzept so vorgesehen ist, dass eine Maßnahme auch völlig Unschuldige betrifft). Hinzu kommt, dass einige der eingesetzten Maßnahmen von ihrer Art und Weise her die Rechte der Betroffenen so massiv verletzen, dass es mit einem Rechtsstaat kaum noch vereinbar ist.

Dieser inflationäre und übertrieben invasive Gebrauch von Überwachungstechnologien aber wird auf Dauer unserem Rechtsstaat ebenso schaden wie einer unbefangenen, konstruktiven Nutzung moderner Kommunikations-, Lern-, und Arbeitsmöglichkeiten. In einem Rechtsstaat muss es Freiräume geben, die es den Bürgern erlauben, sich zu entfalten, zu lernen, miteinander zu kommunizieren und Ideen zu entwickeln und auszutauschen. Nur so kann eine Gesellschaft im 21. Jahrhundert bestehen, und genau das werden wir nicht können, wenn man an verantwortlicher Stelle nicht bereit ist, einige Freiheiten zu gewähren. Auf Dauer wird dieses Mehr an Kontrolle uns nicht sicherer leben lassen, sondern nur unfreier und ohne den kompletten Nutzen aus neuen, vielversprechenden Technologien ziehen zu können. Das sollte einigen Politikern und Ermittlern dringend bewusst werden. Ein bisschen gesunder Menschenverstand, dafür aber weniger pauschales Misstrauen, würden Wunder wirken.

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